Wo kommen Menschen unter, die keine Bleibe haben?
Von Nicole Hollatz, Kerstin Schröder und Michael Prochnow (Ostseezeitung, 29.01.2019)
Ich hab meine Wohnung vermüllen lassen“, erzählt Paul. Er guckt aus dem Fenster und zuckt mit den Schultern. Paul ist 51 Jahre alt, als Diabetiker und Dialysepatient schwer krank. Irgendwann, ganz schleichend, ist da dieser Moment, in dem der Wismarer in seinen eigenen vier Wänden nicht mehr klar kommt. Eine Zeit, in der ihm vieles egal ist. „Ich hab nur noch vor mich hin vegetiert. Und dann bin ich hier gelandet.“ Er muss in eine Notunterkunft für Obdachlose.
Das war im Juni 2018. Und Paul heißt eigentlich anders, den Vornamen hat er sich gerade ausgedacht. Aber alles andere, was er erzählt, ist wahr. Paul will nicht stigmatisiert werden für das, was er derzeit ist. Er hat seine Wohnung verloren, der Vermieter hat ihm gekündigt. Paul war nicht in der Lage, sich rechtzeitig eine neue Bleibe zu suchen. So ist Paul obdachlos geworden.
„Ich hab mich erst geschämt, dass ich hier gelandet bin“, seufzt er. „Weißt du, ich bin ein Mensch, der immer anderen geholfen hat“, ergänzt er und erzählt vom Leben „vorher“, vom Ehrenamt und dem Job, von seinem Leben. Als Paul selbst Hilfe brauchte, als es ihm so richtig dreckig ging, konnte er das nicht zugeben. Nicht mal seine Geschwister wussten Bescheid. „Ich musste ja funktionieren.“ Die Zimmer sind so, wie man sich eine Notunterkunft vorstellt. Doppelstockbetten, wenig Möbel, Kleidung und gebrauchtes Geschirr. Putzen müssen die Bewohner ihre Bereiche alleine. In einigen Zimmern riecht es etwas unangenehm. Es hört sich hart an, wenn die Haus-Chefin Manuela Latchinian sagt, die Bewohner sollen es nicht zu gut im Sinne von bequem haben. Aber das ist wichtig, wer gut und bequem in den eigenen vier Wänden wohnen will, muss sich bewegen.
Stadtmission bietet 130 Plätze
Viel Bewegung gibt es auch im Betreuten Wohnen der Rostocker Stadtmission. 130 Plätze bietet diese an. Die meisten Bewohner bleiben im Durchschnitt ein paar Monate bis zu zwei Jahre, erzählt Leiter Hartwig Vogt. Die Frauen und Männer bekommen nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch Betreuer an die Seite gestellt. Die Sozialarbeiter helfen den Bewohnern, ihre Schulden abzubauen, aus der Sucht herauszukommen oder Probleme mit der Justiz zu beheben. „Die meisten, die zu uns kommen, bemühen sich um einen Neustart, es sind sogar Familien darunter“, berichtet Hartwig Vogt. Etwa die Hälfte der Bewohner schaffe es, wieder in eigene Wohnungen zu ziehen. Andere würden bei Freunden unterkommen, eine Therapie beginnen oder manchmal auch in Haft gehen. Und dann gibt es auch noch einige kranke und sehr alte Bewohner (bis zu 80 Jahre). Sie dürfen, wenn das Rostocker Sozialamt zustimmt, viele Jahre bei der Stadtmission bleiben. „Für sie wird die Unterkunft dann wirklich zu ihrem Zuhause“, betont Vogt.
Dass eine Notunterkunft generell aber kein Zuhause ist, betont die Wismarerin Manuela Latchinian. Trotzdem: Verglichen mit den Notquartieren von Großstädten ist die Villa zwischen Kreisverkehr und dem Burgwallcenter Wismar Luxus mit einer familiären, fast heimeligen Atmosphäre. Vor etwas über einem Jahr ist die Obdachlosenunterkunft in die so genannte Gundlach-Villa gezogen. Die Diakonie hat die kommunale Aufgabe „Notunterkunft“ vom vorherigen Träger, dem Verein „Das Boot“, übernommen – zusammen mit den damaligen Bewohnern. Ein Mann lebt schon seit vier Jahren dort. Er ist von „der Haffburg“ mit in die Container an der Hochbrücke gezogen und nun in die Villa.
Jetzt im Winter, wenn die Gartenlaube als illegales Dauerdomizil zu kalt wird, füllen sich die Unterkünfte. Im Nachtasyl der Rostocker Stadtmission stehen 25 Plätze für Männer und bis zu acht für Frauen bereit. „Wenn mehr benötigt werden, weil es draußen gerade sehr kalt ist, muss aber niemand vor der Tür stehen bleiben“, betont Hartwig Vogt.
Wie Rostocks Sozialsenator Steffen Bockhahn (Die Linke) berichtet, gibt es ausreichend Kapazitäten in der Stadt für Menschen, die keine Wohnung haben. „Es muss niemand auf der Straße schlafen“, betont er. Für alle, die eine Unterkunft wollen, seien Plätze vorhanden. Im vergangenen Jahr hat Rostock etwa 1,3 Millionen Euro für die Träger der Wohnungslosenhilfe ausgegeben. In der Wismarer Villa gibt es zurzeit 18 Bewohner. Die Jüngsten sind um die 20 Jahre alt, die Ältesten über 70. Meist sind es Männer, aber auch zwei, drei Frauen sind darunter, die sich gerade eine eigene Toilette erbeten haben. Wegen der Sauberkeit.
Die Obdachlosen werden bei Minustemperaturen nachts von der Polizei aufgegriffen und ins Haus gebracht oder kommen vom Ordnungsamt. „Das hat den Überblick über Zwangsräumungen“, erzählt Manuela Latchinian. Manch einer steht auch unangekündigt vor der Haustür, kommt dann für die erste Nacht ins „Notbett“. Bis die Formalien geklärt sind, besonders die örtliche Zuständigkeit.
Paul teilt sich sein Zimmer mit einem anderen Bewohner. „Nicht einfach“, beschreibt er diplomatisch die Situation. Aber er kommt klar. Und lacht: „Ich habe hier kochen gelernt! Ich habe das erste Mal Buletten gemacht!“ In der großen Gemeinschaftsküche mit der alten Stuckdecke bekochen und verpflegen die Bewohner sich selbst. Was für Paul noch wichtiger ist als die Buletten: Er hat gelernt, sich Hilfe zu holen und sich helfen zu lassen. „Das darf hier keine endgültige Situation für mich sein!“, erzählt er. Er sucht eine Wohnung, aber barrierearm und mit Betreuung, damit er nicht wieder in die gleiche Situation kommt.
Schwierige Wohnungssuche
„Das ist das Schwierige“, spricht Manuela Latchinian ein großes Problem an. „Erstens geeigneten Wohnraum finden, dann noch den Vermieter überzeugen, einen Menschen aus der Notunterkunft zu nehmen. Und dann noch so optimistisch sein, dass der Mensch den Weg ins geregelte Leben schafft. Dass er nicht in einem halben Jahr wieder in die Villa einzieht.“
Die Diakonie überlegt derzeit, ob sie selbst Wohnungen anmietet, um so ihren Bewohnern den Start zu erleichtern oder überhaupt erst einmal zu ermöglichen und die Hilfe „danach“ zu koordinieren. „Ich werde da auf jeden Fall Hilfe brauchen“, sagt Paul jetzt schon. Jeder der Bewohner hat sein Päckchen zu tragen. Manch einer ist hoch verschuldet, andere haben wie Paul die Wohnung verkommen lassen, haben psychische Probleme. Manuela Latchinian: „Sucht ist ein großes Thema.“ Alkohol, Cannabis, harte Drogen. Die sind in der Villa tabu. Wer erwischt wird, auch beim Rauchen im Zimmer, muss mit Strafen rechnen. Beispielsweise gibt es mal einen Tag Hausverbot. Raus müssen sie alle, jeden Vormittag. „Die Leute sollen ihre Dinge regeln, sollen zu den Ämtern“, begründet Manuela Latchinian. Raus aus den Betten, raus aus den Zimmern. Sich bewegen und sich kümmern. Ziel ist es, natürlich, dass die Menschen wieder auf die Beine kommen. „Aber ich bin dankbar, dass ich hier gelandet bin“, sagt Paul.
In der ehemaligen Kreisstadt Grevesmühlen stehen mehrere Wohncontainer in der Wismarschen Straße für Obdachlose bereit. Sie bieten Platz für zwölf Personen. Zurzeit ist nicht alles voll. „Acht Plätze sind belegt“, teilt Stadtsprecherin Regina Hacker mit. In Boienhagen, wo sich weitere Unterkünfte im Bereich des Amtes Grevesmühlen befinden, ist momentan eine frei, die anderen sechs Wohnungen sind bezogen. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre gibt es nur selten spontane Fälle von Obdachlosen, die Notunterkünfte benötigen.
Das Sozialamt des Landkreises Rostock führt derzeit keine kreisweite Übersicht von Unterkünften für obdachlose Menschen. Grund: Die Betreuung der Betroffenen regeln die Städte und Gemeinden eigenständig. Die Stadt Bad Doberan hält keine Extra-Unterkünfte bereit. Sollte jemand Hilfe benötigen, würden den Menschen aber Kommune und Kirche beratend zur Seite stehen und bei der Suche nach Wohnraum helfen, berichtet Bürgermeister Thorsten Semrau. In Güstrow gibt es unter anderem Unterkünfte in freier Trägerschaft.