Als wir 2007 begannen unseren Kinderhospizdienst OSKAR in Rostock aufzubauen, hatten wir weder Erfahrung noch ein funktionierendes Telefon.
Die sich etablierende „Kinderhospizszene“ war vom Norden aus gesehen weit weg und es gab keine weiteren ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienste vor Ort, von denen wir uns etwas abgucken konnten. Ich war damals noch eine junge Studentin mit einem alten Fahrrad vor der Haustür und wenig Erfahrung in der Praxis – jedoch, das möchteich nicht verschweigen, mit vielen Erlebnissen als verwaistes Geschwister.
Es war Professorin Marie-Luise Bödiker-Lange, die wir damals für unseren ersten qualifizierten Vorbereitungskurs in unserem neu gegründeten Ökumenischen Kinderhospiz- und Familienbegleitdienst gewinnen konnten. Als Mitbegründerin der Hospiz- und Trauerbewegung in Deutschland hatte sie nicht nur unendlich viele Erfahrungen in ihrem Rucksack, sondern auch ein sehr reflektiertes Wissen, das sie in verschiedenen Büchern veröffentlichte. Und sie hatte ein Lieblings-Thema: Hospizliche Haltung.
Vorbilder gesucht: Hospizliche Haltung entwickeln
Gespickt mit Erzählungen aus ihrer langjährigen Tätigkeit lud sie uns ein, die Geschichte von Oskar kennenzulernen, dem kleinen Jungen aus der Erzählung von Eric-Emmanuel Schmitt (vgl. Oskar und die Dame in Rosa). Oskar ist zehn Jahre alt und erkrankt an Leukämie. Nachdem Chemo und die Rückenmarkstransplantation fehlgeschlagen sind, hat er nur noch wenig Zeit zu leben:
„Hallo, ich heiße Oskar, bin 10 Jahre alt, und ich habe die Katze und das Haus angezündet, ich glaube, ich habe sogar die Goldfische gegrillt […]“ (Schmitt 2002: 9).
Oskar hat unendlich viele Fragen an die Welt, doch die Erwachsenen vermeiden es, ihm Antworten zu geben. Sie scheuen sich ihm in die Augen zu schauen und sein Sterben zu thematisieren. Im Buch sagt Oskar: „Sie fürchten sich vor mir. Sie trauen sich nicht, mit mir zu reden. Und je weniger sie reden, umso mehr komme ich mir wie ein Monster vor. Warum jage ich ihnen solche Angst ein?“ (Schmitt 2002:85)
Als die Dame in Rosa in Oskars Leben tritt, keimt Hofnung in ihm auf. Sie versucht erst gar nicht, Oskar zu trösten, sondern eröffnet ihm Möglichkeiten sich mit seiner Erkrankung und dem Sterben auseinanderzusetzen. Die Dame in Rosa macht Oskar Mut, seine ihm bleibende Lebenszeit bewusst und äußerst lebendig zu füllen.
„Die Legende von den 12 vorhersehbaren Tagen sollten wir miteinander nachspielen, du und ich. Also vor allem du. Von heute an wirst du jeden einzelnen Tag so betrachten, als würde er 10 Jahre zählen.“ (Schmitt 2002:38)
Und so erlebt Oskar alle Phasen des Lebens mit den dazugehörigen Krisen in kürzester Zeit. Die Entscheidung dazu trifft Oskar jedoch selbst.
Aspekte von Haltung in der Begleitung
Oskar stirbt im Kreis seiner Familie und hat vieles hinterlassen – besonders für uns als damals ganz neue und noch unerfahrene Mitarbeitende in der Hospizarbeit. Und so war es kein Wunder, dass der Wunsch bestand, unseren Dienst nach diesem kleinen Oskar zu benennen. In den 15 Jahren unserer Tätigkeit gab es immer wieder Momente, in denen wir an Eric-Emmanuel Schmitts Oskar dachten und uns nach dem Handeln der Dame in Rosa ausrichten konnten.
Wir sind im Laufe der Zeit einigen ‚Oskars‘ begegnet; Kindern, die schwer erkrankt oder in Trauer sind. Sie haben ihre Türen aufgemacht, um uns an ihrem Erleben teilhaben zu lassen. Und sie haben unsere Haltung und das Selbstverständnis unseres Dienstes zu jeder Zeit tief geprägt.
Von einigen ihrer Gedanken möchte ich erzählen.
Wahrheit ist Liebe
Es ist ein ganz natürlicher Wunsch, dass Eltern versuchen, ihre Kinder zu beschützen. Viele Erwachsene tun dies, indem sie Zeitpunkte für ein offenes Gespräch hinauszögern oder nur die „halbe“ Wahrheit sagen. In einem Gespräch mit mehreren Kindern berichtete ich von einem kleinen Jungen, dem die Wahrheit zu seiner Erkrankung vorenthalten wurde in dem Bemühen, dass es ihm nicht noch schlechter geht und er traurig wird. Daraufhin sagte Eda, 10 Jahre alt: „Ich habe mal gehört, dass es in der Erwachsenenwelt um Geld und Liebe geht. Aber wenn die Erwachsenen uns Kindern die Wahrheit über Tod und Sterben erzähen, dann ist das doch auch Liebe.“
Drinnen muss es schöner sein als draußen
Den Kindern, die unsere Trauergruppe besuchten, boten wir an, Erinnerungskisten zu gestalten. Kleine Andenken, Fotos, Erlebnisse mit dem Verstorbenen oder auch Kleidungsstücke sollten darin Platz finden. Wir hatten den Kindern viel Zeit eingeräumt, die Kisten zu gestalten, doch nach zwei Stunden bemerkten wir, dass die Kisten immer noch nicht bunter wurden.
Vielmehr hatten die Kinder zuerst begonnen, den Innenraum der Kartons zu bemalen, zu beschreiben und mit feinsten Stoffen auszulegen. Auf meine Frage, warum sie die Schatzkiste denn nicht von außen bunt anmalen würden, sagte Leo, 13 Jahre: „Man Madlen, das ist doch ganz einfach: Drinnen muss es immer schöner sein als draußen!“
Wenn ich tot bin…
In der Begleitung von jungen Menschen am Lebensende erleben wir häufig, dass es viele Fragen gibt, auf die wir keine Antwort haben. Besonders die Frage, was nach dem Tod passiert, beschäftigt uns immer wieder. Die Begründerin unseres Kinderhospizdienstes, Ines Borchardt, setzte sich als Mutter eines sterbenden Kindes aktiv mit den Fragen, Sorgen und Ängsten ihres Kindes auseinander. Irgendwann fragte ihr Sohn Mike, was nach seinem Tod mit ihm passieren wird. Seine Mutter begann davon zu erzählen, dass er vielleicht ein Schmetterling sein kann, der sie begleitet und besucht. Mike war ein kräftiger Kerl und hatte ständig Hunger. Wahrscheinlich hat ihn das Bild eines pastellfarbenen Schmetterlings eher schockiert als getröstet. Spiritualität zu ermöglichen und wertfreie Räume für eigene Gedanken zu schaffen, ist ureigener Auftrag der Hospizarbeit. Und so konterte Mike damals kurz vor seinem Tod, indem er sagte: „Nein Mama, wenn ich tot bin, dann will ich eine Hyäne werden!“
Wir haben in all den Jahren das große Glück gehabt, viele ‚Oskars‘ kennenzulernen. Als Mitarbeitende eines Kinderhospizdienstes ist es von jeher unser Auftrag anwaltschaftlich für die uns anvertrauten Kinder aktiv zu werden. Vermutlich ist es die größte Herausforderung in der Hospizarbeit, die eigene Rolle und tief verwurzelte persönliche Muster immer wieder neu zu reflektieren. In der systemischen Begleitung betroffener Familien wird schnell deutlich, dass ein Kontakt immer nur auf Augenhöhe stattfinden kann und dass es, so wie wir es oft erleben durften, die Kinder sind, die meist vorbildlich und wissend ihren ganz eigenen Weg suchen. Sie darin zu begleiten ist für uns Kern hospizlicher Haltung.
Autorin: Madlen Grolle-Döhring (Koordinatorin, Ökumenischer Ambulanter Kinderhospizdienst OSKAR und Familienbegleitdienst Rostock)
Quellenangaben: Schmitt, .E E. (2005): Oskar und die Dame in Rosa. Frankfurt am Main: Fischerverlag | Bödiker, M.-L.; Schmidbauer, H.; Graf. G. (2011): Hospiz ist Haltung. Kurshandbuch Ehrenamt. Ludwigsburg: der hospiz verlag.