28..03.2017 | Rostock | SVZ: Wohnungslose Männer können in Rostock einen Notschlafplatz bekommen – für 13 Stunden. Wir waren vor Ort bei der Nachtschicht.
Robert hat getrunken. So wie immer. Sein Gang verrät ihn. Die Hände zittern. Der Blick ist trüb. In seinem Rucksack klappern die Flaschen. Er war den ganzen Tag draußen. Jetzt sucht er einen Unterschlupf für die dunklen Stunden. Den Weg zur Rostocker Asylunterkunft am Güterbahnhof 22 kennt er aus dem Effeff. Immerhin war er in den letzten 14 Jahren vier Mal obdachlos.
Das zweistöckige Gebäude ruht unscheinbar in der Dämmerung. Dabei ist es das einzige Nachtasyl für wohnungslose Männer in Mecklenburg-Vorpommern. Punkt 18 Uhr schließt Lothar Jentzsch die Tür auf. Kalter Rauch und ein süß-säuerlicher Geruch nach abgestandenem Alkohol stoßen nach draußen. Die Wände der Unterkunft sind grün gestrichen – die Farbe der Hoffnung. Dabei haben diejenigen, die hier schlafen, die Hoffnung häufig schon verloren.
Robert ist einer der Ersten an diesem Abend. Er meldet sich an und muss seinen Alkohol abgeben. So sind die Regeln. Im schlimmsten Fall droht das Hausverbot. Wann er das letzte mal nüchtern war, weiß er nicht. Zu groß ist die Angst vor dem Entzug, nachts schweißgebadet aufzuwachen, mit Herzrasen und Halluzinationen. „Ich will nicht trinken, aber das macht das Leben bedeutend einfacher.“ Deshalb hält er „den Spiegel“. „Man verliert sich selbst, stumpft ab, legt sich bei Minus drei Grad auf eine Parkbank. Und manchmal hofft man, dass man erfriert.“ Robert erinnert sich an das andere Leben. An das Leben bevor er „Scheiße baute“ und im Knast landete. An die Zeit mit ständigem Wohnsitz. Damals hatte er eine Frau und konnte seine beiden Kinder regelmäßig sehen. „Meine Große weiß, dass ihr Papa krank ist“, sagt Robert. Seine Stimme bricht. Von seiner Tochter zu erzählen, mache ihn traurig. Er sei schließlich längst nicht mehr so dickhäutig wie früher.
Unter Kontrolle hält ihn nur der Alkohol. Wie eine giftige Schlange hat er sich in sein Leben geschummelt. „Ich habe schon mehrfach einen Entzug gemacht. Aber das wird jedes Mal schlimmer.“ Robert schreit nach Hilfe. Doch es hört ihn niemand. Was bleibt, ist die Ernüchterung. Vor der Tür zündet er sich eine Zigarette an. Die letzte Kippe für heute. Das Bett ruft. Um sechs ist die Nacht vorbei. Dann steht Robert wieder auf der Straße. Mit seinem Rucksack und den vollen Flaschen.
Lothar Jentzsch ist der Herr der Betten. Er vergibt die Schlafplätze. 25 Wohnungslose ab einem Alter von 18 Jahren können hier in drei Sälen unterkommen. Die Ausstattung erinnert an eine schlichte Jugendherberge: Doppelstockbetten, Gemeinschaftsraum, kein Schnickschnack. Wer seine Privatsachen verstauen möchte, bekommt ein Schließfach. „Als Hartz IV eingeführt wurde, hatten wir mal mehr Zulauf als Plätze. Doch die Situation hat sich schnell entspannt“, erinnert sich Lothar Jentzsch. Seit 17 Jahren arbeitet er in dem Nachtasyl der Stadtmission. Zuvor war er Religionslehrer. „Der Unterricht fängt so unvernünftig früh an. Als Nachteule bin ich besser geeignet.“ Falls ihn doch einmal die Müdigkeit übermannt, liest er Zeitung, ein Buch, erledigt den „Bürokram“ oder schmeißt die Waschmaschine an. Dass er die Nächte größtenteils alleine im Büro verbringt, stört ihn nicht. Er helfe mit seiner Arbeit Menschen. Völlig vorurteilsfrei. Das sei alles, was zählt.
Dabei hat jeder, der in Deutschland unfreiwillig wohnungslos ist, einen Anspruch auf Obdach. „Es ist Aufgabe der Kommunen dafür zu sorgen“, erklärt Lothar Jentzsch. Die Sozialämter dürfen in der Theorie niemanden mit Verweis auf fehlende Unterkünfte abweisen. Im Zweifelsfall müsse sogar ein Hotelzimmer finanziert werden. Die Wohnungslosigkeit zu bekämpfen, sei nur im Interesse der Stadt. „Das Nachtasyl kostet mehr, als den Leuten Wohnraum zu geben. Wenn aber nicht genügend Wohnraum zur Verfügung steht, kann das zum Problem werden.“
Lothar Jentzsch interessiert sich nicht für die Lebensgeschichten seiner Übernachtungsgäste. „Die Meisten haben Probleme, die ich nachts nicht lösen kann. Ich verstehe mich als Hausvater, der dafür sorgt, dass alle gut schlafen können.“ 2016 zählte das Nachtasyl 3275 Übernachtungen. Die Zahl bliebe seit Jahren konstant. Pro Jahr registriert das Nachtasyl etwa 100 Erstaufnahmen, der Rest sind bekannte Gesichter. Die meisten bleiben eine Nacht, für andere wird die Asylunterkunft zu einem Übergangszuhause. Im Sommer kämen immer ein paar mehr Gäste, als im Winter, verrät Lothar Jentzsch. „Die Jungs wollen in Ruhe schlafen und das können sie nicht, wenn im Sommer die Nächte zu Tagen gemacht werden.“
Heiko ist seit drei Tagen hier. Das Sozialamt hat ihm in Rostock einen Notfallschlafplatz zugewiesen. Dabei kommt er eigentlich aus Kröpelin – zumindest kam er das, bevor er 19 Monate in der JVA Bützow einsaß. Er schläft schlecht. Wenn er aufwacht, geht er eine rauchen. „Man hat sich darum gekümmert, dass ich Sozialleistungen bekomme, aber nicht um eine Wohnung. Dass ich jetzt auf der Straße stehe, interessiert keinen.“ Die Situation nage an seinem Gemüt. So sehr, dass er wieder angefangen hat zu trinken. „Ich war zweieinhalb Jahre trocken. Aber jetzt laufe ich jeden Tag elf Stunden durch die Straßen. Welchen Sinn hat da das Leben noch?“ Die Gedanken an die Zukunft zermürben ihn. Er sei jetzt ein „OFW“ – ohne festen Wohnsitz. Die Abkürzung klebe wie ein Stempel auf seiner Stirn.
Gegen eins in der Früh kommt der letzte Schlafgast. Edgar. „Er kommt immer mit dem Fahrrad, links und rechts hängen Tüten am Lenkrad. Er ist oft der letzte. Am Tag verkauft er Zeitungen, mit der Dämmerung greift er zur Flasche.“ Drei Stunden Schlaf holt sich Edgar. Er verlässt die Unterkunft als Erster. Spätestens um 7 müssen alle raus sein. Dann endet für Lothar Jentzsch nach 13 Stunden die Nachtschicht. Den Dienst am Abend übernimmt ein Kollege. Robert und Heiko werden um kurz nach 18 Uhr wieder da sein – in der Hoffnung auf ein Obdach für eine Nacht.
Josefine Rosse
Aus der Redaktion der Zeitung für die Landeshauptstadt